Mittwoch, 4. September 2013 · 23:30 Uhr (ARD)
Koalition der Frommen
Wie viel Religion verträgt die Republik? Reportage mit Ingrid Matthäus-Maier
Die Trennung von Staat und Kirche ist im Gesetz festgeschrieben – ebenso wie deren Sonderrechte. Die Kirchen verlieren zunehmend an Mitgliedern, ihre Bindungskraft nimmt rapide ab – ihre Privilegien scheinen ungebrochen. Für die Reportage wurde u.a. Ingrid Matthäus-Maier interviewt.
Wie viel Nähe zu Kirche und Glauben verträgt der säkulare Rechtsstaat? Wie viel Respekt, aber auch wie viel Distanz ist geboten? Ist die zweifellos zu schützende Religionsfreiheit ein Privileg ohne Grenzen? Mit welchem Recht beanspruchen die Lager der Frommen, ob nun Christen oder Muslime, Freiräume, die keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe zugesprochen würden?
Ein Film von Tilman Jens
Zu Ingrid Matthäus-Maier:
Ingrid Matthäus-Maier studierte Rechtswissenschaft in Gießen und Münster und war danach bis 1976 als Verwaltungsrichterin in Münster tätig. 1969 trat sie in die F.D.P. ein. 1972 wurde sie Bundesvorsitzende der Jungdemokraten. Nach dem Koalitionswechsel 1982 („geistig-moralische Wende“) trat sie aus der F.D.P aus und in die SPD ein. Sie war Mitglied des Bundestages von 1976 bis 1982 und von 1983 bis 1999. Von 1999 bis 2008 gehörte sie dem Vorstand der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) an, von 2006 bis Mitte 2008 war sie Vorsitzende und Sprecherin der KfW-Bankengruppe (Rücktritt im April 2008). Nach ihrem Ausscheiden bei der KfW wurde Ingrid Matthäus-Maier Mitglied im Kuratorium der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit 2008 engagiert sie sich als Beiratsmitglied in der Giordano-Bruno-Stiftung und ist Sprecherin der Kampagne „Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz“ (GerDiA).
http://hpd.de/veranstaltungen?action=cal&id=738&tab=cal_single
Kirchenprivilegien und Beschneidungen sind menschenrechtswidrig und absurd!
Die in der Fernseh-Dokumentation dargestellten Privilegien der Kirchen sind – wie alle anderen der sehr vielen weiteren nicht genannten Privilegien – nachweisbar rechtswidrig und unchristlich:
1. Die in der Verfassung verankerte Religionsfreiheit beinhaltet auch eine so genannte „negative“ Religionsfreiheit, welche verbietet, dass eine Religion den Anspruch erhebt, vom Staat bevorzugt zu werden. Es ist verboten, das gleichberechtigte Freiheitsrecht einer anderen Religion zu beschneiden (wie bei allen Freiheiten gilt auch hier: Das eigene Freiheitsrecht hört dort auf, wo das Freiheitsrecht eines anderen anfängt). Nebenbei: Diese so genannte „Religionsfreiheit“ sollte schnellstmöglich in „Weltanschauungsfreiheit“ umbenannt werden, da sonst weiterhin die nach den Menschenrechten gleichberechtigten nichtreligiösen Weltanschauungen indirekt diskriminiert werden!
2. In einer juristischen Doktor-Arbeit wird z.B. das Kirchensteuererhebungsrecht des Grundgesetzartikels 137 (6) WRV als „verfassungswidrig“ eingestuft (als so genanntes „verfassungswidriges Verfassungsrecht“), da es „in einem unauflösbaren Widerspruch“ zu Absatz 1 desselben Artikels steht („Es besteht keine Staatskirche“). (Die Dissertation stammt von Markus Kleine und ist 1993 als Buch erschienen unter dem Titel „Institutionalisierte Verfassungswidrigkeiten im Verhältnis von Staat und Kirchen unter dem Grundgesetz“).
3. Das Bundesverfassungsgericht hat schon mehrfach den Staat aufgefordert, „weltanschauungsneutral“ zu sein (skandalöser Weise bisher ohne Erfolg), da nur dann Deutschland eine „Heimstatt“ für alle Menschen sein kann, egal ob sie eine religiöse oder nichtreligiöse Weltanschauung haben. Neutral bedeutet hier, dass keine Weltanschauung benachteiligt oder bevorzugt werden darf – und dennoch passiert diese Ungleichbehandlung seitens des Staates tagtäglich sehr viele Male!
4. Auch die Menschenrechte verbieten jegliche Ungleichbehandlung im Weltanschauungsbereich. Wiederholt hat die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Frau Professor Jutta Limbach darauf hingewiesen, dass die „Goldene Regel“ (Konfuzius: „Behandle andere Menschen so, wie du selbst behandelt werden möchtest!“), die Grundlage der Menschenrechte und des deutschen Grundgesetzes ist, ohne die kein gedeihliches Miteinander möglich ist!
5. Schließlich: Auch die christliche Nächstenliebe – ohne die ein Mensch kein Christ sein kann – verlangt, dass auf jegliche Bevorzugung verzichtet wird! Die Nächstenliebe wird in der Bibel u.a. so formuliert: „Liebe deinen Nächsten, denn was dir unlieb ist, tue ihm nicht!“ (Lev. 19,18; nach einer alten aramäischen Übersetzung). Sicher wäre es Christen sogar höchst „unlieb“, wären sie genauso benachteiligt wie z.B. zurzeit sämtliche nichtreligiöse Menschen!
Daher finde ich, die Kirchen sollten sich im eigenen Interesse massiv dafür einsetzen, dass endlich alle unchristlichen Bevorzugungen ihrer oder auch anderer Religionen beseitigt werden.
Vor allem denke ich dabei an:
Gottesbezug im Grundgesetz (stattdessen Bezug auf Menschenrechte),
Kirchensteuer (stattdessen Einzug der Mitgliedsbeiträge durch die Kirchen selbst),
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen (stattdessen Weltanschauungskunde und Ethik),
staatliche christliche Feiertage (stattdessen nur weltanschauungsneutrale Feiertage, welche die Gesellschaft zusammenführen statt wie zurzeit spalten).
Wenn heutige so genannte „Christen“ auf Bevorzugung bestehen, so finde ich dies auch historisch absurd und katastrophal: Christen waren am Anfang ihrer Geschichte eine kleine religiöse Sekte, welche sich der damaligen Religion der römischen Besatzungsmacht nicht unterwarfen und daher grausam verfolgt wurden. Aber als ihre Weltanschauung selbst Staatsreligion wurde, ermordeten sie noch viel mehr und grausamer alle anderen Menschen mit einer anderen Weltanschauung!
Ich finde, wirkliche Christen sollten sich endlich wieder auf ihre Wurzeln der Nächstenliebe besinnen – andernfalls, finde ich, sollten bisherige Mitglieder der Kirchen austreten!
Aber auch der Staat sollte sich verpflichtet fühlen, dass es soziale Gerechtigkeit auch im extrem wichtigen – da jeden betreffenden – Weltanschauungsbereich gibt (jeder Mensch hat – bewusst oder unbewusst – eine Weltanschauung)!
Nur dann können sich alle Menschen in Deutschland „heimisch fühlen“, egal ob sie religiös oder nichtreligiös orientiert sind!
PS. Zum neuen Beschneidungsgesetz:
Als vor mehr als 2000 Jahren Juden und Muslime in ihren Religionen die Beschneidung ihrer minderjährigen Kinder verankerten, hatten Kinder noch keine eigene Rechte. Nun leben wir jedoch in einer ganz anderen Zeit, in der auch Kinder – mehr oder weniger gleichberechtigte – Menschen sind. Daher haben sie nach Menschenrechten und Grundgesetz haargenau wie bei den Erwachsenen dasselbe Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit!
Die Drohung von Juden und Muslimen, im Falle keiner Beschneidungserlaubnis Deutschland zu verlassen, ist eine Erpressung und hätte von einem wehrhaften starken Deutschland selbstverständlich zurückgewiesen werden sollen!
Religiöse Traditionen sind nicht dafür da, ewig weiter ausgeübt zu werden. Sie müssen stets neuzeitlichen Erkenntnissen angepasst werden – daher gibt es ja z.B. keine Menschenopfer oder „Hexen“-Verbrennungen mehr (aber auch keine Ermordungen von Juden, was noch während der Nazi-Diktatur eine weltanschauliche Tradition war – daher finde ich es absurd, wenn nun Juden ausgerechnet vom deutschen Staat die Erlaubnis einfordern, die Unversehrtheit der eigenen Kinder beschädigen zu dürfen!).